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  Der Junge
 
Markus Kemp fuhr in seinem dunkelblauen Audi auf der A2 in Richtung Bochum, war mit sich und der Welt zufrieden und ahnte nicht, dass sich sein Leben innerhalb der nächsten Stunden radikal ändern würde.
Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag sein schwarzer Aktenkoffer, der das Manuskript seines ersten Romans und einen Scheck von dem Verlag, der das Buch gekauft hatte, enthielt. Selig vor sich hin grinsend strich er über das glatte, schwarze Leder, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen. So bemerkte er rechtzeitig, dass die Bremslichter der vor ihm fahrenden Autos aufleuchteten und die Warnblinker anfingen, rhythmisch zu pulsieren.
“Na entzückend”, murmelte er, war aber nicht sonderlich überrascht, sich von einem Moment auf den nächsten in einem Stau wiederzufinden. Um ehrlich zu sein hätte es ihn mehr verwundert, wenn er von Magdeburg nach Bochum hätte durchfahren können. Markus reiste nicht viel in Deutschland herum, ab und zu besuchte er seine Familie im entfernten Sachsen-Anhalt, ansonsten verzichtete er lieber auf lange Autofahrten, weil sie sich nie richtig planen ließen. Immer gab es irgendwelche Komplikationen, die den sorgsam aufgestellten Zeitplan durcheinander brachten. Und Markus hasste es, wenn seine Tage nicht nach einem fertigen Schema abliefen. Er hielt sich selbst nicht für einen Pedant, obschon andere das taten, er behauptete von sich, er sei nur korrekt. Spontanität verabscheute er regelrecht. Leute, die sorglos in den Tag hineinlebten, waren ihm suspekt und er hielt sich von ihnen fern. Das war auch der Grund, warum er so wenige Freunde hatte. Genau genommen hatte er überhaupt keine Freunde, sah man von den beiden Arbeitskollegen ab, mit denen er hin und wieder ein Bier trinken ging. Und auch diese Treffen waren durchgeplant bis in die letzte Minute. Dass Spontanität das vielgerühmte Salz in der ansonsten recht geschmacklosen Brühe, die man gemeinhin Leben nannte, war, interessierte Markus in etwa soviel wie die letzte Reisernte in China.
Markus lächelte still in sich hinein, als er in die genervten Gesichter der anderen Autofahrer sah. Natürlich hatte er sich im Vorfeld schon eine Alternativroute zurechtgelegt, für den sehr wahrscheinlichen Fall eines Staus. Die nächste Abfahrt lag etwa fünfhundert Meter vor ihm. Da er auf der rechten Spur stand, war es relativ einfach, auf die Standspur zu fahren und die Ausfahrt zu erreichen. Wäre Markus spontan gewesen, hätte er sich breit grinsend und winkend von den anderen Fahrern, die jetzt ziemlich dumm dastanden, verabschiedet. Aber eine Verabschiedung sah sein Plan nicht vor, also ließ er seine perfekt manikürten Finger am Lenkrad und lächelte nur.
Markus hatte vor, den Stau zu umfahren und zwei Auffahrten weiter seine Heimreise auf der Autobahn fortzusetzen. Er hielt sich genau an die Beschilderung. Dass er richtig fuhr, bemerkte er daran, dass die Autobahn immer mal wieder links von ihm auftauchte, er sich also parallel dazu bewegte. Er bog an der Kreuzung rechts ab, weil das Schild es vorschrieb. Insgeheim wunderte er sich, denn eigentlich wäre er nach links gefahren. Rein intuitiv. Und sein Orientierungssinn hatte ihn noch nie verlassen, er vertraute jedoch darauf, dass die Schilder ihn zur Autobahn zurückbringen würden.
Die Strasse war schlecht beleuchtet und die wenigen Laternen warfen ein ungesundes, gelbes Licht auf die rissige Teerdecke. Rechts und links erhob sich ein fast undurchdringlich dunkler Wald, der, als Markus ihn bemerkte, plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Das helle Xenonlicht seines Audi schaffte es kaum, die allumfassende Finsternis zu durchdringen. Nur wenige Meter vor seinem Auto verschmolz der schwarze Asphalt mit der Düsternis des Waldes zu einem bedrohlich wirkenden Loch. Verwundert warf Markus einen Blick auf die Uhr in seinem Armaturenbrett. Die saphirblaue Digitalanzeige musste defekt sein, denn sie zeigte 23:06 Uhr. Das konnte nie und nimmer stimmen, denn Markus war etwa 16:00 Uhr von der Autobahn abgefahren. Er wusste das deshalb so genau, weil er es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, regelmäßig auf die Uhr zu schauen, damit seine Zeitpläne nicht ins Wanken gerieten. Außerdem wollte er in diesem speziellen Fall wissen, was ihn der Umweg an Zeit kosten würde. Wenn es jetzt tatsächlich 23:06 Uhr war, würde das bedeuten, dass er acht Stunden auf der Strasse ins Nichts unterwegs war. Das konnte unmöglich stimmen. Acht Stunden! Noch nie in seinem Leben hatte er acht Stunden am Stück im Auto gesessen. Ein Blick auf seine silberne Armbanduhr bestätigte ihm jedoch, dass die Elektronik seines Audi nicht defekt war, denn die Armbanduhr zeigte jetzt ebenfalls an, dass es kurz nach elf Uhr abends war. Verwundert schüttelte Markus den Kopf und trat sachte auf die Bremse. Hinter den Scheiben pulsierte und verlagerte sich die Dunkelheit und kam näher, als wäre sie ein Lebewesen. Selbst der Asphalt war schwarz, so tiefschwarz, als sei nie ein einziges Auto darüber gefahren.
Als sei er gerade eben fertig gestellt worden. Markus´ leicht überreizte Sinne fanden eine andere Umschreibung: Erschaffen. Ihm kam es so vor, als wäre der Asphalt eben erst erschaffen worden.
Markus bremste vorsichtig, hielt an und stieg aus. Die Luft war feucht und kalt. Es roch nach nassem Laub und totem, schimmeligem Holz. In dem Wald schien es nicht ein Geräusch zu geben. Selbst ein Städter wie Markus wusste, dass ein Wald niemals so still sein konnte. Auch nicht nachts. Es gab Knacken, Käuzchenrufe, Grillenzirpen, wenn auch nicht so schamlos übertrieben wie in einem Hollywoodschinken. Aber es gab niemals diese absolute Stille, dieses allumfassende Nichts. Als würde der Wald sich vor irgendetwas fürchten und sei aus diesem Grund verstummt.
Markus drehte sich einmal um seine Achse, nur um festzustellen, dass er mutterseelenallein in einem Wald stand, in dem es keinerlei Leben zu geben schien. Rechts und links von ihm waren nur diese Wände aus Holzstämmen und direkt vor ihm die kleinen Inseln aus totem Licht, die die Scheinwerfer auf den Boden projizierten. Hinter ihm nur ein schwarzes Loch, das jedes Licht einsaugte.
Links von Markus raschelte es leise. Zutiefst erschrocken fuhr er herum. Sein Herz schlug plötzlich so heftig, dass sein Blick pulsierte. Die Augen weit aufgerissen stierte er in die ungefähre Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Doch alles, was er sah, war diese grauenhafte Dunkelheit, die so dicht und erstickend war wie eine Decke. Obwohl er sich etwas beruhigt hatte, telegraphierte Markus Herz immer noch rasende Morsezeichen zu seinem Hals. Schnell stieg er wieder in seinen Wagen und fuhr langsam los. Er fuhr tatsächlich langsam, kaum mehr als Schritttempo, weil es ihm nicht eben ratsam erschien, auf einer finsteren Straße zu rasen, als sei des Teufels Großmutter hinter ihm her.
Er wusste nicht, wie lange er gefahren war (eigenartigerweise hatte er es versäumt, auf die Uhr zu gucken) als er an einer Raststätte vorbei kam. Ohne sie weiter zu beachten fuhr er daran vorbei, obwohl es ihm in den Sinn kam, dass es in Deutschland keine Raststätten an gottverlassenen Straßen in gottverlassenen Wäldern gab. Herrgott noch mal, es gab ja kaum noch welche an den Landstraßen, die sind alle in den Achtzigern verschwunden. Aber mal angenommen, es gäbe welche, wie würden sie aussehen? Wie gerade erst gebaut?
Der Moment ging vorüber und Markus ließ das Gebäude hinter sich zurück. Zwei, drei, vielleicht auch fünf Minuten fuhr er weiter und freundete sich mit dem Gedanken an, umzukehren. Da die Straße scheinbar endlos weiter in die Dunkelheit führen mochte, erschien es Markus ratsamer, auf der Stelle zu wenden und den Weg zur Autobahn zurück zu finden. Zum ersten Mal in seinem Leben fing er an, sich zu verfluchen, nicht auf seine Intuition gehört zu haben. Wäre er seinem Gefühl gefolgt und an der Gabelung nach links abgebogen, wäre er nie in diesem verdammten Wald gelandet.
Aus den Augenwinkeln sah er noch, dass ein Schemen von links aus einem Gebüsch vor sein Auto sprang. Aber zwischen dem Erkennen und der Reaktion lagen Welten. Das Metall des Audi protestierte kreischend und mit einem hellen Singen splitterte die Frontscheibe. Es knackte kurz. Kein trockenes Knacken, sondern feucht, fleischig.
Dann kam das Rumpeln, und das Auto bockte erst vorn und kurz darauf hinten, bevor es endlich zum Stehen kam. Das Gesicht vor Schreck und Angst aschfahl, versuchte Markus sich einzureden, dass der Schemen ein Reh gewesen sein musste. Wildschaden, Haarwild. Keine große Sache, die Versicherung zahlt. Hoffentlich lebt es nicht mehr. Aber gleichzeitig schrie diese widerliche innere Stimme in seinem Kopf ihm zu, dass Rehe keine weißen Oberhemden tragen.
Das Auto war ausgegangen. Markus schlotterte am ganzen Körper, als er versuchte, mit fahrigen Bewegungen den Gurt zu lösen. Die Tür klemmte, aber ein kurzer Ruck genügte und sie sprang quietschend auf. Die Angst vor dem, was er finden konnte, ließ ihn wie auf Stelzen gehen.
Auf der zersplitterten Frontscheibe sah er kleine, braune Spritzer, die auf der völlig zerbeulten Motorhaube größer waren und feucht glänzten. Es roch nach warmen Motoröl und Kupfer. Irgendwie schaffte er es, sich nach links zu drehen und den Blick hinter das Auto zu lenken.
Das erste, was er fühlte, war Erleichterung. Da war kein Reh. Auch nichts anderes, schon gar nichts, was weiße Oberhemden trug. Dann jedoch sah er die riesige Blutlache.
Das zweite, was er fühlte, war ein geradezu mystischer Brechreiz. Die Übelkeit rollte wie ein Klumpen eiskalten Schlamms durch seine Därme. Beide Arme auf die Knien gestützt, erbrach sich Markus zweimal hintereinander. Wie eine dunkle, kalte Flüssigkeit sickerte Panik in sein Gehirn und versuchte es zu ertränken. Er stand auf einer fast lichtlosen Straße, mitten in einem viel zu stillen Wald mit einem Wagen, für den das Wort Totalschaden noch milde formuliert war. Das einzige Licht, das er hatte, war das der Rückleuchten, denn die Frontscheinwerfer waren zerborsten und erblindet. Markus´ Adrenalinspiegel war so hoch wie der Mount Everest und schien noch zu steigen, als ihm bewusst wurde, dass das, was er überfahren hatte nicht mehr da war.
Das war der Moment, in dem die Rückleuchten beschlossen, sich dem Rest des Autos anzuschließen und in die ewigen Jagdgründe einzugehen. Markus stand da in der plötzlichen Dunkelheit, und alles, was er registrierte, war das Geräusch seines eigenen Atems und die Geruchsmelange aus Motoröl, Blut und Kotze. Die Angst, die er fühlte, war so tief und kalt wie das Polarmeer. Er fühlte sich unendlich allein und verloren.
Aber wie sich herausstellte, traf nur letzteres zu. Als plötzlich eine Stimme zu ihm sprach, erschrak sich Markus derart heftig, dass sein Herz losraste wie eine amoklaufende Fabrikmaschine. Es war die Stimme eines Kindes. Ein Junge, noch sehr jung. Er klang leicht vorwurfsvoll, als er Markus leise, fast sanft aus der Dunkelheit erklärte: “Du hast mich überfahren.”
Dann berührte Markus eine kalte Hand zögernd am linken Arm und der Junge sagte leise: “Hilfe!” Es war nicht zu überhören, dass er grinste, als er das sagte.
Die feinen Haare an Markus´ Armen und im Genick stellten sich auf und eine Gänsehaut legte sich wie Krepppapier auf seine Haut. In der Finsternis konnte er noch immer kaum etwas erkennen, aber er drehte den Kopf und sah den Jungen an. Er war etwa sieben oder acht Jahre alt und ziemlich schlank, dürr geradezu. Er hielt den Kopf schief und sah Markus an, so wie Hunde es tun, wenn man mit ihnen spricht. Das weiße Oberhemd, das er trug, war ihm viel zu weit und mit feuchten, dunklen Flecken besprenkelt. Und er grinste boshaft von einem Ohr zum anderen.
Markus dachte noch so etwas wie: “Verdammte Scheiße, ich hab ihn überfahren”, als der Junge seinen Arm packte. In einer schnellen, fließenden Bewegung verbiss er sich plötzlich in Markus´ linken Oberschenkel. Der war so überrascht, dass er im ersten Moment nicht einmal schrie. Er verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts auf seinen Hintern. Der Junge verstärkte den Biss. Markus hatte das Gefühl, jemand würde ihm einen glühenden Korkenzieher ins Bein drehen, und endlich kam er auf die Idee, sich zu wehren. Er schrie den Jungen an und versuchte, ihn wegzudrücken, doch er konnte ihn kein Stück bewegen.
Und dann begann der Junge, wohlig grunzend, zu saugen.
Markus konnte es spüren. Es zog. Es brannte. Grellrote Schmerzblumen explodierten in seinem Oberschenkel. Er schrie vor Schmerzen, ein hoher, quiekender Laut. Er versetzte dem Jungen einen gewaltigen Hieb auf den Kopf, doch der schien ihn gar nicht zu beachten.
Markus drehte durch. Er hämmerte dem Jungen beide Fäuste auf Kopf, Hals und Oberkörper und schrie dabei wirres Zeug. Was ihn in diesem Moment mehr entsetzte, die ausweglosen, brüllenden Schmerzen oder das widerliche, saugende Schmatzen, konnte er nicht sagen. Er zappelte hilflos herum, aber schließlich packte er den rechten Arm des Jungen und drehte ihn. Als die erwartete Reaktion ausblieb, verstärkte er den Druck, bis er plötzlich spüren konnte, wie der Knochen der Belastung nicht mehr standhielt und brach. Es war ein unspektakuläres, trockenes Knacken, wie von einem Ast. Und endlich ließ der Junge von Markus ab.
Sein Gesicht war mit einer Patina aus Blut überzogen, als er in die Dunkelheit zurückwich. Sein rechter Arm stand in einem falschen Winkel von seinem Oberkörper ab.
“Du hast mir wehgetan”, flüsterte er, aber seine Stimme klang nicht im Mindesten vorwurfsvoll, eher amüsiert, so als reize es ihn, wenn sich eines seiner Opfer wehrt. Er sagte noch etwas, aber Markus verstand es nicht, da er lautstark keuchte und schniefte. Er wischte sich mit beiden Händen die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht, dann war der Junge verschwunden.
Irgendwie schaffte es Markus, in den Audi zu kommen. Er konnte nicht sagen, wie. Die Schmerzen und der Schock ließen nur noch induktives Denken zu: pures reagieren anstatt zu agieren. Im Auto fand er seine Mag- Light Taschenlampe, so lang wie sein Unterarm und aus Metall, die wie immer mit frischen Batterien gefüllt war. Im ersten Moment dachte Markus gar nicht daran, dass er ja jetzt wieder über eine Lichtquelle verfügte, er wollte sich schlicht und einfach bewaffnen. Dann jedoch schaltete er sie ein und richtete sie auf den schmerzenden Oberschenkel. Das Bein sah aus wie Hackfleisch. Der Stoff der Jeans war zerrissen und blutgetränkt, und er konnte sehen, dass ein Stück Fleisch einfach herausgerissen worden war.
Die Wunde blutete heftig und im Geiste dankte Markus der deutschen Bürokratie, die nicht zulässt, dass ein Auto die TÜV- Plakette bekommt, ohne einen Verbandskasten mit sich zu führen.
Er verband sich so gut es ging und mied währenddessen ganz bewusst jeden klaren Gedanken über seine absonderliche Situation, die sich jeder Planung komplett entzog. Als er fertig war, überlegte er, was zu tun sei. Er war sich darüber im Klaren, dass er schnellstens in ein Krankenhaus musste, stellte aber fest, dass sein Handy den Unfall nicht überlebt hatte. Damit war klar, dass er zu Fuß zumindest soweit gehen musste, bis er ein vorbeifahrendes Auto anhalten konnte.
Markus nahm die Taschenlampe, stopfte sich den Scheck vom Verlag in die Tasche seiner blutigen Jeans, klemmte sich den Verbandskasten unter den Arm (sicher ist sicher) und humpelte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Es wurde ein Höllentrip. Rechts und links von ihm erhob sich der schweigende, schwarze Wald. Die Luft war deutlich kühler geworden, aber das konnte auch an dem Blutverlust liegen. Das Luftholen fiel ihm schwer, jeder Atemzug fuhr wie ein Dolchstoß in seine Lunge, als hätte der Hals Widerhaken. Der Schmerz wurde schlimmer und verbreitete sich von seinem Bein aus auf den gesamten Körper. Nach einiger Zeit hatte Markus das Gefühl, er wäre kopfüber in ein Meer aus Schmerzen getaucht. So schleppte er sich langsam vorwärts, immer auf der Hut vor kleinen Psychopathen in zu großen, weißen Hemden, die ihn aus der Dunkelheit anspringen konnten.
Er fragte sich, welcher Teufel den Jungen geritten haben konnte, ihn so plötzlich zu beißen. Und hatte er ihn tatsächlich überfahren? Aber wie konnte er sich dann noch bewegen, geschweige denn ihn angreifen, bedachte man den Zustand des Audi?
Mit diesen Fragen schlug sich Markus eine Zeit lang herum, bis sein Verstand nicht mehr war, als ein zerschlissenes Seil, das kurz vorm Zerreißen stand.
Etwa eine Stunde später, sein Bein hatte eine erschreckend graue Farbe angenommen, erreichte er die Raststätte.
Aus keinem der Fenster schien Licht. Markus ließ langsam den schwefelgelben Lichtstrahl der Mag- Light über die Außenfront wandern. Das Haus sah tatsächlich aus wie neu. Es verhieß ihm die heilige Dreifaltigkeit der Stunde: Ein Telefon, Ibuprofen und Licht.
Er klopfte an die Tür.
Erst vorsichtig und leise.
Dann lauter.
Nichts.
Er begann, zu rufen.
Niemand antwortete.
Markus fühlte sich jetzt wirklich elend in diesem Moment. Und zornig. Hatte er sich eine halbe Ewigkeit durch diesen beschissenen Wald geschleppt, nur um festzustellen, dass die neu gebaute Ratsstätte geschlossen war?
Er rüttelte wild am Türgriff und stand wie vom Donner gerührt, als sich die Tür einfach öffnete. Sie war nicht abgeschlossen.
“Da darfst Du nicht rein”, sagte eine Stimme hinter Markus leise, sanft und unüberhörbar boshaft grinsend. Er fuhr herum und leuchtete dem Jungen mit der Mag- Light direkt ins Gesicht. Sofort kniff er die Augen, die wie Perlmut glänzten, zu und wich in die Dunkelheit zurück. Markus sah die getrockneten Blutflecken auf dem weißen Hemd, auf seinen Lippen und seinen Zähnen. Der Arm sah wieder vollkommen normal aus.
Markus wich ins Haus zurück, so schnell sein kaputtes Bein es zuließ und warf sich von innen gegen die Tür. Der Lichtschalter links von der Tür glühte wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Mit der flachen Hand schlug Markus drauf und empfand eine Erleichterung, die er nicht in Worte kleiden konnte.
Hätte ihm jemand vor einer Woche gesagt, er würde vor einem achtjährigen Jungen fliehen, er hätte ihm offen ins Gesicht gelacht.
Er ging weiter hinein und sah, dass das Haus von innen nicht annähernd so neu war, wie von außen. Der Putz rieselte hinter vergilbten und zerfetzten Tapeten von der Wand und die Dielen starrten so vor Schmutz, dass er unter Markus´ Schuhen knirschte. Es roch nach Schimmel, Rattenkot und Verwesung. Er sah in die einzelnen Räume, die allesamt altmodisch möbliert waren, in einigen standen Taschen und Rucksäcke, aber er fand kein Telefon.
Leise knirschend öffnete sich die Tür. Der Junge zischte: “Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein!”
Markus rannte humpelnd und fluchend die Treppe hinauf.
Er fand ein Zimmer im ersten Stock und verbarrikadierte sich darin. Hier, so hoffte Markus, konnte er es aushalten, bis die kalten, klaren Finger der Morgendämmerung die Dunkelheit zurück in den Wald schieben würden. Das Licht würde den Jungen vertreiben, selbst das künstliche Licht der Mag- Light hatte ihm Unbehagen bereitet. Aber was war er? So eine Art Vampir? Oder ein Werwolf im Kindesalter? Wahrscheinlich irgendwas dazwischen. Markus nahm das als Tatsache hin, ohne groß darüber nachzudenken. Woher sonst sollte all dieses Reisegepäck kommen, das hier herumlag? Oder die Knochen in den anderen Räumen? Oder all die blutige Kleidung?
Die Hoffnung, es trotz aller grusligen Details hier heraus zu schaffen, erblühte wie ein zartes, grünes Pflänzchen in Markus´ Innerem.
Es waren nur noch ein paar Stunden.
Er konnte es schaffen.
Der Junge hatte nur einmal versucht, die Tür zu öffnen. Es gelang ihm nicht. Scheinbar steckte all seine Kraft in seinen Kiefern.
Nur ein paar Stunden.
Er konnte es schaffen.
Er hörte, wie sich unten die Tür öffnete.
Nur ein paar Stunden.
Er konnte es schaffen.
Er hörte die Stimmen von Erwachsenen.
Nur ein paar Stunden.
Er konnte es schaffen.
Er hoffte, es seien Polizisten, die sein kaputtes Auto gefunden hatten.
Aber er wusste, es waren die Eltern des Jungen.
 
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