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  Spione
 
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Süßlich dumpfer Verwesungsgeruch schlug Hauptkommissar Maximilian Rothe entgegen und trieb ihm die Tränen in die Augen, als er die Tür zur Wohnung  von Markus Kampmann öffnete und eintrat. Schon im Hausflur hatte er ihn wahrgenommen, den Geruch, der zwangsläufig einhergeht mit dem Zerfall von Fleisch, wenngleich weniger intensiv.
Kampmanns Nachbar, Dieter Neukirchen, hatte die Polizei informiert, weil er seit Tagen weder etwas von Kampmann gehört, geschweige denn ihn gesehen hatte. Und außerdem war da noch die Sache mit dem fürchterlichen Geruch im Hausflur.
Rothe fand die Wohnung nicht so vor, wie er es eigentlich erwartet hatte. Weder türmte sich Unrat knöchelhoch auf dem Fußboden, noch verschwand die Küche unter einem Berg von schmutzigem Geschirr und schimmligen Essensresten. Um die Wahrheit zu sagen, sah die Wohnung so aus, als wäre ihr Bewohner zu Lebzeiten ein Mensch gewesen, dem selbst die sterile und antiseptische Sauberkeit eines OP- Saales noch nicht genügt hätte. Nirgends konnte Rothe auch nur die Spur eines Staubkornes auf den wenigen, alten Möbeln erkennen. Die Ordnung in den drei Räumen war derart penibel, dass es schon beinahe so wirkte, als würde Rothe sich in einem Museum bewegen. Er  fand keine herumliegenden Briefe oder Rechnungen, die wenigen Bücher standen in einem kleinen Wandbord, als hätte sie Kampmann mit dem Lineal millimetergenau ausgerichtet. Im Bad hing noch Wäsche auf einer Leine, die scheinbar hastig über der Wanne angebracht worden war. Beim genaueren Hinsehen fiel Rothe auf, dass von den fünf aufgehängten schwarzen Sockenpaaren eines unvollständig war. Ein kleines Lächeln umspielte kurz die Lippen des Polizisten. Ihm passierte es fast ständig, dass eine Socke beim Waschen verschwand. Das war für ihn weder beunruhigend noch erschreckend. Schließlich kam es fast regelmäßig vor, dass kleinere Kleidungsstücke beim Waschen im Bermudadreieck seiner Waschmaschine auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Und dass es anderen Leuten genauso erging, erheiterte Rothe ungemein.
Das Bad unterschied sich nicht von den anderen Räumen. Die Armaturen glänzten genauso wie die Keramik des Waschbeckens, der Badewanne und der Toilette. Alles hier war so klinisch rein, als hätte Kampmann Angst gehabt, Schmutz könne eine Angriffsfläche für die Außenwelt bieten.
Kampmann selbst, oder besser gesagt dessen abgemagerte Leiche, saß in einem großen Ledersessel, der mitten im Wohnzimmer stand. Augenscheinlich war er verhungert. Bis auf eine rotkarrierte Wolldecke, die um seine Schultern geschlungen war, war er nackt. Rechts neben dem Sessel stand ein kleiner dunkelbrauner Holztisch, auf dem mehrere, engbeschriebene Blätter Papier und zwei Bleistifte lagen.
Rothe streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über, um möglichst keine Spuren zu verwischen und griff nach den Seiten.
Der Wahnsinn, der aus dem winzigen Papierstapel troff, ließ Rothe schier nach Luft schnappen.
 
- 2 -

“Ich habe es tausend mal gesagt. Vielleicht sogar fünftausend mal oder noch öfter. Immer wieder habe ich es festgestellt, immer wieder, immer wieder.
Sie wollen mich ärgern, mich nervös machen,  mich zur Weißglut bringen. Sie wollen, dass ich durchdrehe und verrückt werde. Auch wenn ich nicht verstehe, warum sie das tun, kann ich doch versuchen, dass es aufhört. Es muss einfach aufhören. Diese Rätsel müssen ein Ende haben, und ich habe vor, mich ihnen zu verweigern. Ich mache einfach nicht mehr mit.

Ist es Euch denn niemals aufgefallen?
Macht Ihr Euch keine Gedanken darüber?
Nehmt Ihr alles einfach so hin, ohne jemals die Gründe zu hinterfragen?
Ist für Euch denn alles selbstverständlich?

Wisst Ihr überhaupt, wovon ich rede?
Oh mein Gott, ich denke, Ihr wisst es nicht!
Ihr wisst es einfach nicht!

Da ich scheinbar der einzigste Mensch auf dieser trostlosen, ignoranten Welt bin, der sie durchschaut, erkläre ich es Euch. Nur ein einziges Mal!

Ich meine die Spione. Täglich kundschaften sie uns aus.
Sie wissen, welche Socken Ihr tragt.
Sie wissen, welche Bücher Ihr lest.
Sie wissen, welche Kleidergröße Ihr habt.
Sie steuern Euch, indem sie Euch beeinflussen, indem sie Euch sabotieren.
Sie experimentieren mit Euch und Ihr merkt es nicht!

Ich habe sie durchschaut, schon seit dem ersten Mal, von Anfang an.
Ich wusste, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht.
Habt Ihr denn niemals so etwas erlebt? Hinterfragt Ihr niemals?

Ich hatte meine Socken gewaschen. Ich wasche meine Socken immer am Wochenende. Und dann hänge ich sie auf die Wäscheleine im Bad. Und ich wasche immer ALLE Socken.
Warum sollte es also passieren, dass eine  Socke fehlt? Warum?
Das habe ich mich damals auch gefragt. Warum fehlt eine Socke?
Ich habe überall gesucht. Ich habe im Schlafzimmer gesucht, wo ich meine Socken ausgezogen habe. Ich habe in der ganzen Wohnung nach ihr gesucht. Mindestens zwanzigmal bin ich den Weg vom Schlafzimmer ins Band gegangen und habe nach ihr gesucht. Gefunden habe ich die Socke nicht. Auch später habe ich sie nicht gefunden.
Sie tauchte nie wieder auf!
Alle meine Bekannten, die ich darauf angesprochen hatte, grinsten nur. Sie gingen einfach darüber hinweg. Niemand scherte sich einen Scheiß darum. Keiner hinterfragte!

Auch Werkzeug verschwand plötzlich. Vorigen Sommer hatte ich begonnen, in meinem Garten ein Baumhaus zu bauen. Urplötzlich fand ich meinen Hammer nicht mehr wieder. Ich habe ihn überall gesucht, aber er blieb verschwunden. Das war der Moment, indem mir vieles klar wurde. Denn: Wohin verschwindet ein großer, schwerer Hammer? In der darauffolgenden Nacht lag ich wach und dachte darüber nach. Schließlich dämmerte es mir: Es sind Spione. Es müssen Spione sein. Sie kundschaften uns aus. Und dabei gehen sie so geschickt ans Werk, dass wir es nicht merken, weil wir nie hinterfragen. Deshalb gehen sie nur soweit, dass wir es als Vergesslichkeit abtun.
Den Hammer fand ich ein halbes Jahr später. Er lag unter einem Busch am Ende des Gartens.
Wer hat ihn dort hingelegt? Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt bereits, weil ich Fragen stelle.”

- 3 -

Ungeachtet des fast unerträglichen Gestanks hatte sich Rothe im Wohnzimmer an einen alten, abgewetzten Plastiktisch gesetzt und hielt die losen Blätter in der Hand.
Okay, Kampmann war im Laufe von ein oder zwei Jahren durchgedreht. So etwas kam vor. Viel häufiger, als die Allgemeinheit erwarten würde. Die bekam fast nie etwas davon mit, es sei denn einer dieser Geisteskranken sprang von einem Hochhaus und riss eine Gruppe Kinder mit in den Tod. Andernfalls lohnte sich eine Berichterstattung im Fernsehen nicht. Die ohnehin schon knapp bemessene Sendezeit musste mit soviel Blut und Innereien wie möglich ausgefüllt werden. Und Kampmann war einer der Toden, die praktisch namenlos in der Versenkung verschwanden. Sie hinterließen keine Lücke, keine trauernden Angehörigen. Niemanden interessierte das. Allein das Darübernachdenken war reine Zeitverschwendung. Wenn Rothe hier fertig war, würde Kampmann wie ein voller Müllsack einfach entsorgt werden. Vorher galt es jedoch herauszufinden, wie er gestorben war. Ein Mensch verhungerte nicht einfach so. Und an ein Verbrechen glaubte Rothe nicht. Er schloss es zwar nicht gänzlich aus, zog es aber auch nicht Betracht. Vielleicht offenbarten die restlichen losen Seiten das Schicksal des armen Spinners.

- 4 -

“Ihr wollt noch mehr Beweise. Glaubt mir, es gibt so viele Beweise, dass ich hier ein dickes Buch damit füllen könnte.
Ich frage Euch: Tragt Ihr Schlafanzüge? Ich trage welche.
Habt Ihr schon mal daran gedacht, dass Ihr nachts untersucht werdet? Nein?
Ich habe es schon lange gemerkt. Die machen mir nichts vor.
Meine Beine.
Ja, meine Beine untersuchen sie regelmäßig. Manchmal auch meinen Bauch oder meine Hüften. Ich lege mich immer völlig angezogen schlafen. Ich achte darauf, immer ganz ruhig auf dem Rücken zu liegen, wenn ich einschlafe.
Am Morgen liege ich immer noch auf dem Rücken, aber manche Körperteile sind nackt. Meine Hosenbeine sind fast immer bis zu den Kniekehlen hochgerollt. Oder das Oberteil ist bis zu den Achseln hochgeschoben.
Ich frage mich, was sie mit mir machen.
Und ich frage Euch, was sie mit Euch machen, während Ihr schlaft?
Aber immer lachen die Leute mich aus.
Ignoriert es ruhig! Ich weiß Bescheid. Ich kenne die Wahrheit.

Ich könnte Euch noch so viele Beispiele nennen, noch so viele Beweise!
Bücher, deren Schutzumschlag fehlt. Warum gibt es denn so viele Bücher, bei denen der Schutzumschlag fehlt?
Die Fliege, die sich immer im Gesicht niederlässt. Man scheucht sie weg, aber sie kommt wieder. Habt Ihr Euch schon mal gefragt, warum das so ist? Warum setzt sich eine Fliege immer in Euer Gesicht? Ich sage es Euch: Das sind keine Fliegen. Das sind Miniroboter, die mit Kameras ausgestattet sind. Damit beobachten sie Euch.

Oder was ist mit dem Licht, das nachts brennt, obwohl man es abends ausgemacht hat? Warum ist das Toilettenpapier immer dann alle, wenn man es dringend braucht?
Manchmal glaube ich, sie können sogar das Wetter beeinflussen. Oder wie erklärt Ihr es Euch, dass es immer dann anfängt zu regnen, wenn man keinen Schirm dabei hat und sich auch nirgends unterstellen kann.
Ich sage Euch, sie treiben Ihre Spiele mit uns. Nicht genug damit, dass sie an uns herumexperimentieren, uns beobachten und nerven. Nein, sie treiben ihre perfiden Spielchen mit uns. Habt Ihr das nicht schon mal erlebt?
Ihr wollt irgendwo hinfahren und Euer Partner fragt Euch: “Ist der Herd aus?”
Ihr könnt jetzt wahlweise auch das Bügeleisen nehmen, oder das Licht, oder die Kaffeemaschine.
Ich wette, dass Ihr regelmäßig zurückfahrt, um nachzusehen. Und selbstredend ist der Herd, das Bügeleisen, das Licht oder die Kaffeemaschine aus.  
Sie spielen mit uns!
Meine Bekannten sagen, es wäre unsere Vergesslichkeit. Pah, dass ich nicht lache!

Wart Ihr schon mal am “Drive In” bei McDonalds?
Ich bestelle dort immer eine Cola.
Nehme ich den ersten Schluck, während die Bedienung mein Wechselgeld heraus gibt, ist die Cola jedes Mal eiskalt und prickelnd, also es sind Eiswürfel drin und genügend Kohlensäure vorhanden.
Trinke ich jedoch erst auf der Autobahn, ist entweder kein Eis in der Cola, oder die Kohlensäure fehlt!
Und, denkt Ihr jetzt immer noch, das sei alles normal?

Ich weiß, was los ist, ich hinterfrage. Und ich werde Antworten bekommen. Ich werde nicht müde, jeden Menschen aufzuklären. Ich werde es beweisen.”

- 5 -

Es war fast zu Ende.
Rothe fühlte seine Augen kleiner und kleiner werden. Er spürte, wie sie sich röteten, wie die Lider aufquollen und sich darum Fältchen bildeten, für die er noch zu jung war. Er setzte sich gerade hin, streckte die Gliedmaßen und gähnte herzhaft. Eine letzte Seite lag noch vor ihm.

- 6 -

“Ich sitze jetzt seit 10 Stunden in meinem Sessel im Wohnzimmer. Um ihnen zuvorzukommen, habe ich mich nackt ausgezogen. Die Heizung ist abgestellt, weil die Spione sie sonst manipulieren könnten.
Ich habe beschlossen, mich nicht aus dem Zimmer zu bewegen. Sie könnten mich beeinflussen, wenn ich das täte. Ich könnte etwas aus dem Kühlschrank holen und es wäre schimmelig, obwohl ich es einen Tag zuvor frisch aus dem Supermarkt geholt habe. Es könnte IRGENDWAS passieren, während ich nicht hier sitze. Also bleibe ich hier und warte.

Ich glaube, sie sind hier. Überall knackt und klickt es in meiner Wohnung. Langsam gelange ich zu der Überzeugung, dass es mein Atmen ist, was sie anlockt. Vielleicht lockt das Geräusch sie an, oder der Geruch der verbrauchten Luft, die ich ausatme. Vielleicht ist es auch die Wärme oder die Feuchtigkeit. Wer weiß das schon genau? Wer weiß überhaupt, wer sie sind, oder was genau sie wollen? Aber ich werde es herausfinden. Jetzt habe ich endlich ein Mittel gefunden, um sie dazu zu bringen, sich zu zeigen. Sie wollen meine Atemluft. Also werde ich jetzt einfach aufhören, zu atmen. Ich bin mir sicher, dass sie sich dann zeigen. Und ich werde beweisen, dass nichts von alldem, was ich berichtet habe unserer Vergesslichkeit zuzuschreiben ist. Ich werde beweisen, dass es sie gibt.
Indem ich aufhöre zu atmen.”











 
 





 
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